"Variations orientalistes" von Sandra Iché
Wien – Mit Variations orientalistes von Sanda Iché hat das Tanzquartier, bevor es sich am Samstag in die Sommerpause verabschiedet, einen gelungenen Saisonschlusspunkt gesetzt. Dabei konnte sich Iché in Wien bereits zum zweiten Mal als herausragende Künstlerin positionieren: Die Choreografin wurde 1978 in Paris geboren. Sie studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Sorbonne und Tanz bei Anne Teresa De Keersmaekers renommierter Parts-Schule in Brüssel. Heute ist Iché das Paradebeispiel für eine im akademischen Feld ausgebildete Tänzerin (u .a. Mitglied der Kompanie Maguy Marin), die sich der dokumentarischen Performance verschrieben hat.
Ihr großes Thema ist der Libanon. Das war bereits vor zwei Jahren in Wagons libres zu sehen, die ihr Publikum nicht nur in Wien, sondern auch international auf einer Tournee durch ganz Europa überzeugte. Anders als etwa der libanesische Künstler Rabih Mroué, der ebenfalls schon im Tanzquartier und zuletzt bei den Wiener Festwochen präsent war, formuliert Iché ihre Ansichten von dem instabilen Land aus europäischer Sicht. Folgerichtig kommen in Variations orientalistes auf den Libanon bezogene Geschichten von Künstlerkollegen auf die Bühne, die dieses Land nur aus Erzählungen und den Medien kennen. Naivität leisten sich Mary Chebbah, Renaud Golo, Pascale Schaer und Vincent Weber in ihren ausgefeilten Fantasien trotzdem nicht. Texte, Bilder und Dialoge prägen das Stück, in dem Iché selbst die Rolle einer kritischen Fragestellerin übernimmt.
Die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation verschwimmen, obwohl man weiß, dass alles Gesagte "nur" ausgedacht ist. Stärker als in Wagons libres tritt hier der Libanon als Realität in den Hintergrund – zugunsten der Darstellung von Erzählweisen, die wie Ausdünstungen des Dokumentarischen wirken, aus dem unsere Mediengesellschaft ihr Wissen bezieht. Hier geht es sichtlich darum, wie Informationen die Sinne berühren, wie sich diese Berührung verändert, wenn die Informationsquellen verdunsten.
Ichés orientalistische Variationen sind wohl nicht als Werturteile über den Fiktionsgehalt von Dokumentationen im Gegensatz zum Wahrheitsgehalt des Poetischen gedacht. Aber sie machen kritisch gegenüber vermeintlichem Wissen und seiner ästhetischen Aufgeladenheit. Das ist schon ein großer Gewinn. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 23.6.2014)